Die Oberschlesische Tragödie, doch wessen Tragödie ist es?

Die Oberschlesische Tragödie, doch wessen Tragödie ist es? Was wird nach dem Jubiläumsjahr 2025 bleiben? Welchen Einfluss hat die Zeit auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Oberschlesischen Tragödie? Am 15. Januar wurde in der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz im Rahmen der Konferenz „80 Jahre danach“ unter anderem diesen Fragen nachgegangen.


Der Deutsche Freundschaftskreis im Bezirk Schlesien setzt sich seit Jahren mit diesen Ereignissen auseinander. Es waren Vertreter der deutschen Minderheit, die die ersten Gedenktage für die Opfer organisierten und die ersten Kreuze und Denkmäler für sie errichteten. Und genau das tun sie auch heute noch. Für das Jahr 2025 ist eine Reihe von Gedenkveranstaltungen geplant und die erste war die Konferenz „80 Jahre danach“. Sie fand im Gebäude der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz im Saal „Benedyktynka“ statt, in dem immer Gesprächsrunden zu wichtigen Themen abgehalten werden. Am 15. Januar wurde in diesem Raum das Thema der Oberschlesischen Tragödie an einem runden Tisch, an dem es keine Trennungen gibt, diskutiert. Denn in diesem Jahr sind es genau 80 Jahre seit den tragischen Ereignissen, die 1945 mit dem Einmarsch der Roten Armee in Oberschlesien begannen.

Eröffnet wurde die Konferenz im vollbesetzten Saal von den Vertretern der Organisatoren der Veranstaltung – von Professor Ryszard Kaczmarek, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Regionalforschung der Schlesischen Bibliothek, Geschichtswissenschaftler, Forscher zur Geschichte Polens, Schlesiens und Deutschlands, Hochschullehrer und Forschungsorganisator, und von Eugeniusz Nagel, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Freundschaftskreises im Bezirk Schlesien, Vorsitzenden des DFK-Kreisverbandes Kattowitz und Vorsitzenden des Komitees zum 80. Jahrestag der Oberschlesischen Tragödie beim DFK Schlesien. Prof. Joanna Rostropowicz und Bernard Gaida hielten Vorträge zum Thema der Konferenz. An der Podiumsdiskussion, die u.a. vom Redakteur Marcin Zasada geleitet wurde, nahmen auch Dr. Henryk Mercik und Marek Łuszczyna, Autor des Buches „Kleines Verbrechen. Polnische Konzentrationslager“ teil.

Es war ein Völkermord

Der Begriff „Oberschlesische Tragödie“ ist kein historischer Begriff. Der Begriff wurde von Grund auf zu einem Zeitpunkt geprägt, als nach Jahren des Schweigens die in der Erinnerung der Oberschlesier bewahrten Ereignisse an die Öffentlichkeit drangen: Gräueltaten, Verbrechen und sowjetische Repressionen, Morde, Vergewaltigungen und Verwüstungen. Ursprünglich beschränkte sich der Begriff auf die Verbrechen der Roten Armee an der Zivilbevölkerung und auf die Deportationen. Doch das war noch nicht alles... Mit zunehmender Schwierigkeit und Angst wurden auch die Verbrechen der kommunistischen Behörden einbezogen, wie zum Beispiel die kommunistischen Lager in Schwientochlowitz (poln. Świętochłowice) oder Lamsdorf (poln. Łambinowice), in die sowohl Deutsche als auch Schlesier – die gesamte einheimische Bevölkerung Oberschlesiens – inhaftiert wurden. All diese Fakten unterstrich in ihrem Vortrag Professor Joanna Rostropowicz, Philologin, Forscherin der schlesischen Kultur, Hochschullehrerin. Ihr Vortrag war der erste Programmpunkt der Konferenz:

Die oberschlesische Tragödie wurde zunächst als die Tatsache bezeichnet, dass mit dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945 Schlesien in Blut getränkt wurde. Außerhalb Schlesiens, in Polen, waren diese Tatsachen nicht bekannt. Nur wir hier in Oberschlesien kannten sie. Bis 1989 wurden unsere Schulkinder gezwungen, den Mördern ihrer Vorfahren, Verwandten, Freunde Dankbarkeit und Ehre zu erweisen... Ich persönlich halte das für eine außergewöhnliche Grausamkeit – den Kindern wurde gesagt, sie sollten Blumen an Denkmälern niederlegen, die zu Ehren der Peiniger dieser Menschen errichtet wurden. Später wurde der Begriff auf die Deportation von Männern ausgedehnt. Ich weiß, dass auch Frauen in die Lager deportiert wurden, aber in viel geringerer Zahl. Diese beiden Fakten waren die wichtigsten im Zusammenhang mit der Oberschlesischen Tragödie. Aber das ist noch nicht alles. Jede Tragödie hat mehrere Akte, und dann gibt es noch die Nachwehen. Die Ereignisse, die nach der Einstellung der Feindseligkeiten stattfanden, erschöpfen die Merkmale des Phänomens, das als Genozid bekannt ist.

„Handlungen, die die absichtliche Zerstörung ganzer Völker oder Teile von Völkern beinhalten“, so lautet die von Prof. Rostropowicz zitierte Definition von Völkermord/Genozid. Es ist schwer, dem nicht zuzustimmen, zumal Prof. Rostropowicz in ihrem Vortrag die Maßnahmen der kommunistischen Behörden bis hin zur Polonisierung, Entdeutschung und Auslöschung des gesamten kulturellen Erbes und aller Spuren des Deutschtums in der Region beschrieb.

Die kommunistischen Behörden sind auch verantwortlich

Können wir im Jahr 2025 von einem Durchbruch sprechen? Diese Frage wurde während der ersten Podiumsdiskussion, die von Marcin Zasada, dem Redakteur der Zeitung „Dziennik Zachodni“ moderiert wurde, aufgeworfen. Zum ersten Mal tauchte nämlich in einem offiziellen staatlichen Dokument ein Satz auf, der darauf hinwies, dass die kommunistischen Behörden auch für die Repressionen gegen die Einwohner von Oberschlesien verantwortlich waren. Es handelt sich um einen Satz aus der Entschließung des Senats der Republik Polen zum 80. Jahrestag der Oberschlesischen Tragödie. Der Satz lautet wie folgt: Nach dem Ende der Feindseligkeiten hörte die Verfolgung nicht auf. Die kommunistischen Behörden von „Volks“-polen, die die Verwaltung der Region übernahmen, setzten die Unterdrückung der Menschen in Oberschlesien fort.

Dr. Henryk Mercik, Architekt, Denkmalschützer, Hochschullehrer, Kommunalpolitiker, Mitglied der 5. Legislaturperiode der schlesischen Woiwodschaft und Aktivist der schlesischen Regionalorganisationen, erklärte am Rande der Diskussion, dass die Entschließung des polnischen Senats seiner Meinung nach einen Durchbruch darstelle, da sie auch die Aktivitäten der Lager einbeziehe. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass der Vorstand der Woiwodschaft Schlesien insgesamt die vierte Entschließung zum Gedenken an die Oberschlesische Tragödie verabschiedet habe, wobei die erste (2011), die sich auf den Tag des Gedenkens an die Oberschlesische Tragödie bezog, damals ebenfalls ein Durchbruch, eine Revolution gewesen sei. Er beschrieb die Verabschiedung dieser Entschließung als das Durchbrechen einer Mauer, einer Barrikade. 

Marek Łuszczyna, Journalist, Reporter, Schriftsteller und Autor des Buches „Kleines Verbrechen. Polnische Konzentrationslager“, ist der Meinung, dass die Aufnahme solcher Bestimmungen ein Schritt in die richtige Richtung sei:

Unter den Menschen in meinem Umfeld, die sich mit Geschichte oder Journalismus beschäftigen, wird dies bereits verstanden und akzeptiert. Es ist nicht so, dass jeder diesen politischen Standpunkt, der von der Angst vor dem schlesischen Separatismus geprägt ist, vertritt. Ich halte es für richtig und für ein Element der Aufarbeitung der Lager, wenn man versteht, dass die Seiten unseres Landes sowohl schön als auch hässlich sind und dass sich im Kontext von 1945 die Geschichten von Polen, Schlesiern, Russen, Juden und Deutschen nicht wie Öl und Wasser vermischen. Hier gibt es keine Gemeinsamkeiten. Die eine Gruppe beschuldigt die andere der Bestialität, und das Tragischste ist, dass sie alle Recht haben. All diese Bestialitäten sind einander widerfahren. Als ich noch vor dem Krieg erwähnte einem Russen über die Vergewaltigung kleiner Mädchen erzählte, wurde er wütend und sagte: „Wie kannst du nur? Wir haben euch befreit“. Das ist so eine Sichtweise und eine andere Perspektive. In einer solchen Diskussion gibt es keine Chance auf einen Konsens und wird es auch nicht geben. Ich denke, dass das, was in den staatlichen Dokumenten aufgetaucht ist, ein Durchbruch ist. Die Nennung der polnischen Offiziere – denn so steht es dort – ist meiner Meinung nach ein Schritt in die richtige Richtung.

Nicht nur Oberschlesien

Während der Debatte über die Entschließung wies Bernard Gaida, Aktivist der deutschen Minderheit in Polen, Vizepräsident der Föderalen Union Europäischer Volksgruppen (FUEN), Vorsitzender der FUEN-Arbeitsgruppe für deutsche Minderheiten und Vorsitzender des Verbandes deutscher Gesellschaften in Polen von 2009 bis 2022, wiederholte darauf hin, dass die vom polnischen Sejm und Senat erörterte Entschließung auch Opfer aus anderen Regionen Polens aus demselben Zeitraum einbeziehen sollte, die von denselben Tätern zugefügt wurden:

Ich denke, während es in unseren oberschlesischen Wojewodschaften lobenswert ist, dass wir bereits so weit sind, dass niemand die Gedenkfeiern in Schwientochlowitz oder Lamsdorf in Frage stellt, ist es auf parlamentarischer Ebene – das ist meine Meinung, und ich steche wahrscheinlich ins Wespennest – falsch, dass die Entschließung nicht genau die gleiche Tragödie aus Ostpreußen, aus Pommern erwähnt... Wir sind in eine Situation geraten, in der die Entschließung im Parlament nur die Opfer aus einer Region Polens betrifft. Ich weiß, dass sich die Entschließung auf die Oberschlesische Tragödie bezieht, aber genau dieselben Ereignisse betrafen Deutsche und als Deutsche anerkannte Personen aus anderen Regionen Polens. Der Senat und der Sejm repräsentieren das ganze Land, und ich denke, der nächste Schritt sollte sein, die Opfer aus anderen Regionen anzuerkennen, die genauso gelitten haben, die durch die Lager in Sikawa oder Potulice gegangen sind, oder die Deportationen aus Działdów oder Grudziądz erlebten, wo es ein großes Lager gab, aus dem Menschen in die sibirischen Gulags deportiert wurden – denn aus Oberschlesien vor allem in die Ukraine, in den Donbas, bis nach Georgien – und auch sehr viele Frauen. Prozentual gesehen sogar mehr als aus Oberschlesien.

Bernard Gaida ging in seinem Vortrag näher auf das Thema ein. Er wies auch wiederholt darauf hin, dass das tragische Schicksal Oberschlesiens von allen im Osten lebenden Deutschen geteilt wurde und dass die von der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs eingeleiteten Ereignisse, seiner Meinung nach, so beschrieben werden sollten.

Die Tragödie geht weiter

In seinem Vortrag bezog sich Gaida auch auf die Worte von Prof. Rostropowicz und betonte erneut, dass das, was in Schlesien, Pommern, Ermland und Masuren geschah, von Vergewaltigung, Deportation und Vertreibung der Deutschen bis hin zu sprachlicher und kultureller Diskriminierung, alle Kriterien eines Geno- und Ethnozids erfüllt. Mit Blick auf die diskriminierende Änderung der Vorschriften für den Unterricht der Minderheitensprache an polnischen Schulen betonte er, dass diese Tragödie immer noch andauere.

In der abschließenden Diskussion kamen die Diskussionsteilnehmer auf die Frage zurück, welchen Einfluss der Zeitfaktor auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Oberschlesischen Tragödie hat. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Gesellschaft immer noch an dem seit vielen Jahren gültigen Narrativ über die Ereignisse von 1945, die zudem immer weiter in die Ferne rücken, festhält. Professor Rostropowicz wies auch darauf hin, dass die Menschen in Schlesien nach wie vor mit einem System zu tun haben, in dem ohne der Zustimmung der herrschenden Schicht nicht viel verändert werden kann, darunter auch das bereits erwähnte Narrativ über die Ereignisse, die als Oberschlesische Tragödie bezeichnet werden. Dr. Henryk Mercik betonte jedoch, dass der Begriff „Oberschlesische Tragödie“ nicht ohne Grund eben hier geprägt wurde:

Ich bin auch der Meinung, dass die Zeit gegen die Schlesier arbeitet. Aber auf der anderen Seite scheint mir, dass wir eine extrem starke Gemeinschaft sind. Auch die oberschlesische Kultur ist so. Angesichts dieser Herrschaft, angesichts all der Ereignisse, von denen wir heute so viel gesprochen haben, angesichts all der Verbote, zum Beispiel Deutsch zu lernen, angesichts der Namensänderungen, angesichts der Unterdrückung unserer schlesischen Sprache, ist es möglich, dass diese Kultur und diese Erinnerung so viele Jahre unter so ungünstigen Bedingungen überlebt haben.

Die Veranstaltung wurde von Ausstellungen des Hauses der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit und der Schlesischen Bibliothek begleitet. Die erste dieser Ausstellungen trug den Titel: „Fremde Heimat? Schlesien 1945 und in den Nachkriegsjahren“ und wurde vom Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Kooperation mit dem Sächsischen Staatsministerium des Innern erarbeitet. An der Konferenz nahm auch Dr. Jens Baumann, Bevollmächtigter für Vertriebene und Spätaussiedler des Freistaates Sachsen, teil. Die zweite Ausstellung wurde aus den Beständen der Schlesischen Bibliothek speziell für die diesjährigen Jubiläumsfeierlichkeiten vorbereitet. Die Ausstellung „Die oberschlesische Tragödie. 80. Jahrestag 1945-2025“ kann noch immer im Gebäude der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz besichtigt werden.

Anita Pendziałek